Wut kennt jeder; bei sich und bei einem anderem. Doch oft gehört die Wut gar nicht demjenigen, der sie emotional fühlt und dann eventuell auslebt.
In meiner Ausbildung zum Familienaufstellen nach Bert Hellinger habe ich verschiedene Arten der Wut kenngelernt. Diese Übersicht ist eine gute Zusammenfassung, um die verschiedenen Aspekte in Familienkonstellationen oder Beziehungen allgemein mal dahingehend zu überprüfen, woher die Wut einer Person ursprünglich kommen könnte.
1. Jemand greift mich an oder tut mir unrecht und ich reagiere dementsprechend mit Zorn und Wut. Diese Wut macht es möglich, dass ich mich kraftvoll verteidige oder durchsetze. Sie befähigt mich, zu handeln, ist positiv und macht mich stark. Diese Wut ist zur Sache und daher gemäß. Sie erlischt, sobald sie am Ziel ist.
2. Ich werde wütend und böse, weil ich bemerke, dass ich nicht genommen habe, was ich håtte nehmen können oder müssen, oder dass ich nicht gefordert habe, was ich hätte fordern können oder müssen, oder dass ich nicht erbeten habe, was ich hätte erbitten können oder müssen.
Statt dass ich mich durchsetze und mir nehme oder hole, was mir fehlt, werde ich auf die Personen wütend und böse, von denen ich nicht genommen oder gefordert oder erbeten habe, von denen ich es aber hätte nehmen, fordern und erbitten können oder müssen.
Diese Wut ist Ersatz für Handeln und Folge unterlassenen Tuns. Sie lähmt, macht unfähig und schwach und dauert oft lange.
Ähnlich wirkt die Wut als Abwehr von Liebe. Statt meine Liebe zu äußern, werde ich auf die, die ich liebe, noch wütend. Diese Wut reicht zurück in die Kindheit, wenn sie als Folge einer unterbrochenen Hinbewegung* entsteht. In ähnlichen späteren Situationen wiederholt sie das frühe Erleben und zieht aus ihm ihre Kraft.
*(Wird die Symbiose Mutter und Kind im ersten Lebensjahr gestört, durch eine frühe Trennung oder später im Kleinkindalter z.B. einen Krankenhausaufenthalt, das Kind für kurz oder lang zur Betreuung anderen Bezugspersonen überlassen werden muss (Grosseltern, Tanten, Krippe, Tagesstätten etc.), nennen wir das eine unterbrochene Hinbewegung. Unterbrochen wird die Hinbewegung auch, wenn das Kind Abweisung, Verletzung, fehlende Fürsorge, Zärtlichkeit oder Gewalt durch die Eltern erlebte.)
3. Ich bin einer Person böse, weil ich ihr etwas angetan habe, es aber nicht zugeben will. Mit dieser Wut wehre ich mich gegen die Folgen einer Schuld, schiebe sie dem anderen zu. Auch diese Wut ist Ersatz für eigenes Handeln. Sie erlaubt mir, untätig zu bleiben, lähmt und macht schwach.
4. Jemand gibt mir so viel Gutes und Großes, dass ich es ihm nicht zurückgeben kann. Das ist nur schwer zu ertragen. Dann wehre ich mich gegen den Geber und seine Gaben, indem ich böse auf ihn werde. Diese Wut äußert sich als Vorwurf, zum Beispiel der Kinder gegen die Eltern. Sie wird zum Ersatz für das Nehmen und Danken und für eigenes Tun, lähmt und läßt leer. Oder sie äußert sich als Depression, die andere Seite des Vorwurfs. Auch sie dient als Ersatz für das Nehmen und Danken und Geben, lähmt und läßt leer. Sie äußert sich auch als lang andauernde Trauer nach einer Trennung, wenn ich den Toten oder Getrennten das Nehmen und Danken oder, wie bei der dritten Art der Wut, das Stehen zur eigenen Schuld und ihrer Folgen noch schulde.
5. Manche haben eine Wut, die sie von anderen und für andere Übernehmen. Wenn zum Beispiel in einer Gruppe ein Teilnehmer seine eigene Wut unterdrückt, wird nach einiger Zeit ein anderes Gruppenmitglied wütend, meistens das schwächste, das überhaupt keinen Grund dazu hatte. In den Familien ist dieses schwächste Mitglied ein Kind. Wenn zum Beispiel die Mutter dem Vater böse ist, aber ihre Wut unterdrückt, wird ein Kind auf ihn böse. Der Schwächste wird oft nicht nur zum Träger, sondern auch zur Zielscheibe der Wut.
Wenn zum Beispiel ein Untergebener wütend wird auf seinen Vorgesetzten, die Wut aber ihm gegenüber zurückhält, lasst er sie oft an einem Schwächeren aus, oder wenn ein Mann wütend wird auf seine Frau, die Wut aber ihr gegenüber zurückhält, büßt es an ihrer Stelle ein Kind. Oft wird die Wut nicht nur vom einen Träger auf einen anderen verschoben, zum Beispiel von der Mutter zum Kind, sondern sie wird auch in der Richtung verschoben, von einem Starken zu einem Schwachen. Dann richtet eine Tochter die von der Mutter übernommene Wut auf den Vater nicht etwa auf ihn, sondern auf jemand, dem sie sich eher gewachsen fühlt, zum Beispiel auf den eigenen Mann.
In Gruppen richtet sich dann die übernommene Wut nicht gegen die ursprünglich gemeinte, starke Person, zum Beispiel den Leiter der Gruppe, sondern auf ein schwaches Mitglied, das damit für den Starken zum Sündenbock wird.
Bei der übernommenen Wut sind die Täter außer sich und fühlen sich stolz und im Recht; sie handeln aber aus fremder Kraft und fremdem Recht und bleiben erfolglos und schwach. Auch die Opfer übernommener Wut fühlen sich stark und im Recht, denn sie wissen, dass sie ungerecht leiden. Doch auch sie bleiben schwach und ihr Leiden erfolglos.
6. Es gibt eine Wut, die ist Tugend und Tüchtigkeit: wache, gesammelte Durchsetzungskraft auf Not-Wendendes hin, die sich wagend und wissend auch dem Schweren und Mächtigen stellt. Doch sie ist ohne Emotion. Wenn es notwendig ist, tut sie dem anderen auch Schlimmes an, ohne Furcht und ohne ihm böse zu sein: Aggression als reine Energie. Sie ist die Frucht langer Disziplin und Übung; doch wer sie hat, der hat sie ohne Mühe. Sie äußert sich als strategisches Handeln.
Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass.
Hass führt zu unsäglichem Leid.